Unser Kontinent ist nach einer Frau benannt.
Einige Tage vor der Europawahl ist es interessant, sich diese mythologische Gestalt der Europa näher anzuschauen. Denn ihre Geschichte ist überaus aufschlussreich.
Wie bei vielen der alten Göttinnen-Mythen gibt es eine meist viel bekanntere patriarchal erzählte Geschichte und eine darunterliegende viel ältere matriarchale Version.
So auch bei Europa.
Verschleppung über die Mittelmeerroute
Doch beginnen wir einmal bei der Geschichte von Europa, so wie wir sie in unseren Geschichtsbüchern finden:
In dieser wird sie als Tochter des phönikischen Königs Agenor und seiner Frau Telephassa dargestellt. Das antike Phönizien umfasste das Gebiet der heutigen Staaten Syrien, Libanon und Türkei.
Der griechische Obergott Zeus hat Gefallen an der schönen fremdländischen Prinzessin gefunden. Er überquerte das Meer von Griechenland nach Phönizien und fand Europa am Strand mit ihren Gefährtinnen spielend. Dort näherte er sich ihr durch eine List, wie er dies bei vielen anderen Frauen und Göttinnen auch getan hat. Er verwandelte sich in einen weißen Stier und mischte sich in hinterlistiger Weise unter eine Herde königlicher Stiere, die der Gott Hermes zuvor zum Strand getrieben hat.
Beim Baden soll er Europa „verführt“ (wohl eher vergewaltigt) haben, um sie anschließend in seine Gewalt zu bringen und auf seinem Rücken über das Meer nach Kreta zu entführen.
Diese Verbringung über das Meer von der östlichen Mittelmeerküste nach Griechenland sehr symbolträchtig.
Stichwort: Mittelmeerroute.
Um es pointiert auszudrücken: Unser Kontinent wurde nach einer syrischen Frau benannt, die von einem „Schlepper“ (Zeus) nach Griechenland gebracht wurde.
Was sagt uns das?
Einer Frau, der in ihrer Heimat von einem europäischen Mann Gewalt angetan wurde. Einem Obergott, der stellvertretend für das patriarchale System steht.
Umdeutung der Göttinnen
Warum hat Zeus das gemacht? Dazu ist es wichtig, sich die zugrunde liegende matriarchale Geschichte anzuschauen:
Kreta war über lange Zeit eine sehr friedvolle matriarchal strukturierte Insel. Es gab keinerlei Befestigungsanlagen, diese waren auch nicht notwendig. Man kannte schon Metall (Kupfer), doch dieses wurde nicht für Waffen verwendet sondern daraus wurde Schmuck hergestellt.
Als schließlich die Festlandgriechen die Insel überfielen und in Besitz nahmen, musste die matrizentrische Kultur vernichtet werden. Dreh- und Angelpunkt dabei war die Umdeutung der alten Göttinnen. Ganz abschaffen konnte man sie nicht, dazu waren deren Kulte zu fest verankert. Aber man konnte ihre Mythen verfälschen und damit die Kraft und die Macht der Göttinnen und mit ihnen auch jene alle Frauen schmälern und sie zu Randerscheinungen machen.
Eine dieser alten kretischen Göttinnen war Hera.
Lange bevor Zeus in Griechenland bekannt war, verehrten sie Menschen in der Ägäis eine kuhäugige Himmelskönigin als oberste Gottheit, die sie Hera nannten. Sie war einst die allumfassende Erd- und Himmels- und Schöpfungsgöttin, die Gebieterin über die Geburten, Mutter aller Göttinnen, Hüterin des Paradieses, eine durch und durch schöne, kluge, erotische, fruchtbare und selbstbestimmte Muttergöttin.
Durch den Einfluss der Festlandgriechen, die sie in ihr System einordnen mussten wurde sie gegen ihren Willen zur Ehefrau des Zeus erklärt und damit zur eifersüchtigen, ihren Gemahl verfolgenden, zänkischen Furie erniedrigt. Wie wichtig sie für Kreta war, das zeigt immerhin noch der Name der Hauptstadt der Insel: Heraklion.
Wer war zuerst da?
Nun gab es neben Hera aber auch noch Europa. Wenig bekannt ist die Tatsache, dass Europa schon lange vor der Episode mit Zeus in Kreta als Mondgöttin verehrt wurde.
Sie ist also genauso wie Hera eine alte kretische Göttin.
Europa soll einen Zauberspeer besessen haben, der niemals sein Ziel verfehlte.
Ein riesiger Krieger aus Messing schützte ihre Insel Kreta.
Ihr Diener war ein Mondstier, auf dem sie nächtens ausritt.
Doch als die patriarchalen Athener in die matriarchal strukturierte Insel Kreta eindrangen, nutzte leider auch der Messingkrieger nichts, da die Festlandgriechen bereits das Handwerk der Metallurgie erfunden haben und damit Eisenwaffen herstellen konnten.
Die Festlandgriechen erhoben nach der Eroberung Kretas Anspruch auf die fruchtbare und prosperierende Insel. Die kretische Bevölkerung hielt an den alten Sitten und Bräuchen fest und argumentierte ihren Anspruch mit den alten matriarchalen Göttinnen und deren langer Geschichte und Tradition.
So musste neben der Umdeutung von Hera auch die Geschichte von Europa umgeschrieben werden. Und damit wurde der verlogene Mythos der phönizischen Prinzessin erfunden. Dadurch, dass Zeus Europa nach Kreta brachte, sollte bewiesen werden, dass er zuerst auf Kreta war und nicht die alte kretische Mond- und Muttergöttin Europa. Daraus leiteten die patriarchalen erobernden Festlandgriechen alle Rechte auf der einst matriarchal strukturierten Insel Kreta ab.
Was damals gelungen war, die Festlandgriechen mit Zeus und den anderen männlichen Göttern siedelten sich auf Kreta nicht zuletzt dank der Umdeutung des Europa-Mythos an, ist einige tausend Jahre danach wirklich der Joke der Geschichte: Eine syrische Frau wird nach Griechenland verschleppt. Und ihr Wirken war dort offenbar so mächtig, dass sie dem gesamten Kontinent ihren Namen verlieh.
Das weitere Schicksal der Migrantin
Wie ging es mit Europa auf Kreta eigentlich weiter?
Der Legende nach kümmerte sich Zeus danach nicht mehr und sie. Es wird hier offensichtlich, wozu diese ganze Aktion diente. Europa, in die sich Zeus ja ach so verliebt hatte, war für ihn schnell uninteressant geworden. Sie hatte ihren Zweck erfüllt, indem sie zur Migrantin erklärt wurde.
Europa bekam auf Kreta drei Söhne: Minos, Rhadamanthys und Sarpedon, die alle Berühmtheit erlangten. Minos als kretischer (minoischer) König (was er Kraft seiner königlichen Gemahlin Pasiphae wurde). Einer seiner Töchter ist Ariadne, sie ist also die Enkeltochter der Europa.
Europas Sohn Minos war möglicherweise auch der Minotaurus im Labyrinth von Knossos.
Von Rhadamanthys sagt man, er sei jener, der von den „Göttern“ geliebt wurde und so auf der Insel der Seligen herrschte. Sarpedon hat sich mit seinem Bruder Minos überworfen, ist nach Lykien (ein Gebiet im westlichen Süd-Kleinasien) geflohen und wurde dort Herrscher.
Europa und der Stier
Es bleibt noch die Frage offen, warum Zeus sich der Europa in Form eines weißen Stieres genähert hat und so ihr anfängliches Vertrauen gewinnen konnte. Schon in alten, vorolympischen Zeiten wurde Europa auf einem Stier reitend dargestellt. Sie ist die alte Göttin auf dem weißen Mondstier.
Schaut man sich die Symbolik näher an, dann zeigt diese alles andere als eine erschrockene entführte Frau.
Wie man z.B. auf den griechischen 2-Euro-Münzen gut sehen kann, reitet Europa sehr souverän und unerschrocken auf dem Rücken des Stieres, der in den alten Mythen ja ihr Diener war.
Diese historische Darstellung stellt den Triumph der Mondgöttin über den Sonnengott (den Stier) dar, den sie reitend beherrscht.
Hier wird also vielmehr den alten matriarchen Mythos dargestellt und hat ganz augenscheinlich weniger damit zu tun, dass der Stier sie entführt hat.
Das Symbol der „Stierhörner“, das ja besonders auf Kreta sehr machtvoll ist, hat im übrigen nicht zwingend etwas mit den Hörnern des männlichen Tieres der Rinder zu tun. Denn auch Kühe haben Hörner — und diese werden immer als Mondsymbole der Großen Göttin angesehen.
Weitere Informationen zu den erwähnten Göttinnen:
Ariadne
Europa
Hera
Pasiphae
Bildquellen:
alle Göttinnenbilder: artedea.net
2 Euro Griechenland: Τράπεζα της Ελλάδος (Bank von Griechenland) – Europäische Zentralbank – de.wikipedia.org
Pingback: Europa kam über die Mittelmeer-Route | Oh Göttin – Kon/Spira[l]