Jedes Jahr am 17. Juli findet der Internationale Tag der Gerechtigkeit statt.
Gerechtigkeit – das ist keine Erfindung der Neuzeit. Zahlreiche Göttinnen der Gerechtigkeit zeigen, dass dies schon in der Antike ein hoher Wert war: Adrasteia, Dike, Iustitia, Maat, Nemesis, Oya, Skuld, Syn, Tenga, Themis, Vör.
Der 17. Juli für den Gerechtigkeits-Tag soll an den Jahrestag des sogenannten Rom-Statuts erinnern, das 1998 die Geburtsstunde des Internationalen Straf-Gerichtshofs (IStGH) mit Sitz in Den Haag einleitete.
In der Antike wie heute gilt: Gerechtigkeit ist unerlässlich für das Funktionieren von Staat und Gesellschaft und betrifft jeden einzelnen Menschen.
Die wechselhafte Geschichte der Göttin Dike
Stellvertretend für alle Gerechtigkeitsgöttinnen möchte ich die Geschichte der griechischen Dike erzählen. Sie ist eine der drei Horen. Das sind die schönen, den Menschen wohlgesinnte Göttinnen, die für Ordnung und Jahreszeiten stehen. Das griechische Wort „hora“ finden wir nicht nur bei den Horen, es steht auch für Jahreszeit, Tageszeit, Stunde, Zeit, rechte Zeit, eng verwandt mit der Uhr und mit dem Horoskop – dem „Stundenschauer“.
Wie die Jahreszeiten bauen die Qualitäten bzw. Segnungen der Horen aufeinander auf: Eunomia ist die, die ursprüngliche gesetzliche und gesellschaftliche Ordnung darstellt. Diese geht in Dike, die Göttin der Gerechtigkeit über, um schließlich zu Eirene zu werden, dem Frieden, der nur auf den beiden anderen Qualitäten aufbauen kann.
Die Aufgabe von Dike war es, die Menschheit gerecht zu halten und über die menschliche Justiz zu wachen.
Sie schützt die Wahrheit und die Gerechtigkeit und ist damit eine entschlossene Feindin des Verrats und der Lüge. Aufs genaueste wägt sie die ungerechten und gerechten Handlungen der Menschen gegeneinander ab.
Das griechische Wort „díkē“ kann einfach für die Gerechtigkeit an sich stehen.
Es heißt, dass Dike im sogenannten goldenen Zeitalter noch unter den Menschen auf der Erde gelebt habe – ein Zeitalter, das durch Friede, Fülle und Reichtum ausgezeichnet war und in dem Dike für Fairness und Weisheit sorgte. Es gab weder Alter noch Gebrechen, denn es herrschte ewiger Frühling und gleichzeitig konnte ständig geerntet werden.
Als Göttin des Frühlings wirkt Dike daher immer noch leicht, unbeschwert und mädchenhaft. Das muss sie vielleicht auch sein, damit sie unvoreingenommen die Dinge beurteilen kann.
Oft wird sie daher auch geflügelt dargestellt. Sie schwebt förmlich über den Dingen, von oben hat sie eine bessere und umfassendere Sicht auf alles.
Als Zeus seinen Vater Kronos entmachtete, endete das goldene Zeitalter.
Im silbernen Zeitalter begann der Zyklus der Jahreszeiten, aber auch Streit, Habgier und Machtgier. Dike soll alle zur Einsicht und Umkehr aufgerufen haben, doch ihre Warnungen stießen auf taube Ohren. Von da an sei sie nur noch selten erschienen unter den Menschen.
Nach dem bronzenen folgte schließlich das eiserne Zeitalter, das – kurz vor einer Sintflut – ob des vielen Mordens und der zahlreichen Kriege die Hoffnung auf eine friedliche Menschheit ganz verloren hat.
Dike war das kriegerische Verhalten, die Rohheit und Ungerechtigkeit unter der Menschen so Leid, dass sie sich zuerst in die Berge zurückzog, um dort auf eine friedliche Ordnung zu warten. Da aber mehrere Zeitalter vergingen und die Zustände immer schlimmer statt besser wurden, flüchtete sie sich getragen von ihren Flügeln, in den Himmel.
Dort bezog sie ihren Platz gleich neben der „Waage“, die mit ihren Waagschalen Gleichgewicht und Ungleichgewicht anzeigt und die damit eine Seelenverwandte ist. Heute ist Dike immer noch als Sternbild der Jungfrau zu sehen.
Nicht zuletzt, weil sie jetzt im Himmel ist, wird Dike auch als ein „kosmisches Prinzip“ verstanden, als Inbegriff der kosmischen Harmonie.
Als Göttin des Rechts wacht sie über die Grenzen des Seins, damit es niemals „Nichtsein“ geben werde.
Von Jungfrau-Geborenen, die unter ihren ganz besonderen Schutz stehen, sagt man ja auch, dass sie es sind, die auf Ordnung achten und das rechte Maß wahren.
In der römischen Mythologie findet sie ihre Entsprechung in der Iustitia. Während diese aber eher für „ausgleichende Gerechtigkeit“ steht, teilt Dike auch aus – nämlich Strafe und Vergeltung.
Der athenische Staatsmann und Lyriker Solon nennt Dike als die, die sich alles merkt und alles rächt.
Links und rechts – Recht und Gerechtigkeit
Interessant ist es, das Wort Gerechtigkeit ein wenig näher zu beleuchten.
Es stammt aus dem germanisches Sprachraum und geht auf die indoeuropäische Wurzel „reg-“ für aufrichten zurückgeht, für richten, „gerade richten“, lenken, führen, herrschen zurück.
Wir finden diese Sprachwurzel auch in „richtig“ oder „ausgerichtet“, „aufrichtig“, in Gericht, Rechtschreibung, Rechteck, im rechten Winkel, in Richtung, dem Rechnen und dem Rechen, der alles gerade richtet und Unrat entfernt. Und vor allem auch im Wort „rechts“ (im Gegensatz zu „links“).
Das Wort „gerecht“ bedeutete ursprünglich einfach nur gerade bzw. geradlinig.
Es hatte damit noch keine Wertung. Gerade ist also gleichwertig bzw. genauso gut wie kurvig, spiralförmig oder rund.
Patriarchale Einflüsse, in denen direkte Zielgerichtetheit immer wichtiger wurde, das schnelle Erreichen eines Zieles auf der möglichst geraden Strecke von A nach B gab all dem eine andere Bedeutung bzw. „Richtschnur“.
Ist gerade besser als rund?
„Gerecht“ war nunmehr auch das Wort für: richtig, passend, tauglich, geschickt.
Alles, was auf verschlungenen Wegen, durch verschlungene Gedankengänge erreicht wird, wurde als untauglich, minderwertig, ja fast verrückt bewertet.
Wenn wir eine Handbewegung dafür machen, dass jemand nicht ganz richtig im Kopf ist, dann drehen wir in unserer Kultur kreisförmig die Hand vor unserer Stirn.
Indigene Völker Nordamerikas haben erstaunlicher Weise eine ganz andere Geste dafür: Sie deuten vor ihrer Stirn einen geraden Strich an, was bedeuten soll, dass dieser Mensch zu einfältig denkt.
Der kürzeste Weg von A nach B berücksichtigt nicht Begleitumstände, förderliche oder hindernde Einflüsse oder Rahmenbedingungen und bezieht vor allem nicht die Weisheit der zyklisch verlaufenden Stationen des Medizinrades mit ein.
Eine Entscheidung, die aus so einem kurzen, geradlinigen Gedankengang heraus getroffen wird, ist nicht umfassend gedacht und abgewogen und bedenkt auch nicht die Auswirkungen für die nächsten sieben Generationen.
Was ist nun „richtig“? Das Geradlinige oder das Runde, Zyklische, Spiralförmige?
Das gute Rechts und das böse Links
In unserem Sprachgebrauch hat sich daher auch eingebürgert, dass „gerecht“, was ja ursprünglich ja eben nur der Ausdruck von „gerade“ war, nun gleichbedeutend ist mit „rechts“ und damit wird diese Richtung auch oft mit richtig, recht, rechtmäßig, gut bewertet.
So ist die rechte Seite – z.B. bei einem Stoff – die richtige. Auf der rechten Seite stehen, rechtschaffen sein, eine rechte Freude haben, Recht bekommen, Rechtschreibung – überall dort ist die Welt in Ordnung.
Daraus folgt: Wenn rechts gut ist, dann ist links schlecht.
Wenn wir schon den Tag der Gerechtigkeit begehen: Das ist auch nicht gerecht!
Stehen wir mit dem linken Fuß auf, dann beginnt der Tag schlecht, jemanden „linken“ oder eine „Linke drehen“ heißt ugs. betrügen, ein linkischer Mensch ist tollpatschig, ein linker Typ ist „verschlagen, hinterhältig“. Wer zwei linke Hände hat, kann im Wortsinn nichts Rechtes mit seinen Händen anfangen.
Warum ist die rechte Hand besser?
Wenn wir nicht mehr wissen, wo rechts und links ist, dann beziehen wir uns übrigens auf die Bibel: Im Buch Jona, Kapitel 4 wird von den Menschen in der lasterhaften Stadt Ninive berichtet, diese wissen nicht, „was rechts oder links ist“. Damit wird ausgedrückt, dass sie Recht von Unrecht nicht unterscheiden können.
Und der Sohn Gottes sitzt ja auch sitzt zur Rechten des Vaters (von wo er auch kommen und „richten“ wird).
Aber da sind wir schon tief in patriarchalem Denken.
In den Büchern des Neuen Testamentes kommt das griechische Wort „dexiós“ (=„rechts“) übrigens insgesamt 54 Mal vor. Interessant ist, das Wort wird von einem Verb abgeleitet, was übersetzt so viel heißt wie „nehmen, ergreifen“. Es beschreibt also genau das, was die rechte Hand wertvoll macht, denn angeblich können viele Menschen mit dieser besonders gut greifen.
Warum das so ist?
Angeboren oder angelernt?
Auch dazu gibt es eine interessante Erklärung: Wenn Mütter ihre Babys im Arm halten bzw. tragen, dann tun sie das instinktiv meistens „mit links“, weil so das Kind den Herzschlag der Mutter wahrnehmen kann.
Die rechte Hand ist für alle alltäglichen Handgriffe frei.
Daher haben wir uns über Jahrtausende angewohnt, rechtshändig zu sein. Frauen machen das automatisch so weiter, auch wenn sie am linken Arm kein Kind tragen und Kinder lernen diese Angewohnheit durch Imitation.
LinkshänderInnen wurden daher lange schief angesehen. Mit der linken Hand zu schreiben, galt lange als unnatürlich. Und so wurden LinkshänderInnen gehänselt und mit Zwang auf das „rechte Schreiben“ umgelernt.
All das hatte Einfluss darauf, dass die rechte Seite als die bessere angesehen, und der Platz zur Rechten wurde zum Symbol von Glück, Wohlstand und Ehre.
Die Sitzordnung im Parlament
Problematisch wird die Verknüpfung von rechts = gut + gerecht und links = unredlich, wenn es um politische Zuschreibungen geht.
Im politischen Sprachgebrauch sind „rechts“ und „links“ Begriffe, die ursprünglich wirklich nur mit den beiden Richtungen diesseits und jenseits einer Mittellinie und in keinster Weise etwas mit etwas „Gerechterem“ oder etwas „Linkem“ im Sinne von „unredlich“ zu tun hatten.
Diese Begriffe stammen aus Frankreich. Mit der Französischen Revolution 1789 wurde die Nationalversammlung einberufen, die eines der ersten europäischen Parlamente in unserem heutigen Sinne war.
Die Sitzordnung in dieser Nationalversammlung spiegelte die Auffächerung der politischen Orientierungen in ein Meinungsspektrum zwischen zwei Extremen:
Die linke Seite „le côté gauche“ kennzeichnete die revolutionäre, republikanische Stoßrichtung, die dafür kämpfte, dass alle Bürger* die gleichen Rechte haben sollten.
Die rechte Seite, „le côté droit“, vornehmlich der Adel, war der Monarchie freundlich gesinnt, wollten lieber den französischen König behalten und war der Meinung, dass es gerecht sei, wenn unterschiedliche Menschen auch verschiedene Rechte und Freiheiten hätten.
Bald wurden die räumlichen Adjektive „links“ und „rechts“ substantiviert und man sprach nun einfach von „la droite“ und „la gauche“. Von Frankreich aus breitete sich die Links-Rechts-Unterscheidung in ganz Europa aus.
Es dauerte nicht lange und man nannte die jeweiligen Parteien nur noch die „Linken“ und die „Rechten“.
Und auch die Sitzordnung in den Plenarsälen unserer Parlamente haben sich lange danach gerichtet, bis viele unterschiedliche Parteien dazugekommen sind, die das politische Spektrum erweitert haben und die eine zweifelsfreie Zuordnung der Parteien zu „links“ oder „rechts“ nicht mehr eindeutig erlauben.
Mit Recht, Gerechtigkeit, auf der richtigen Seite zu stehen hat historisch und aktuell diese Sitzordnung allerdings gar nichts zu tun …
Da sollte man sich lieber an einen Grundsatz der Vör halten, die als Gerechtigkeitsgöttin auch die Göttin der Herzensprüfung ist. Sie wird oft mit einem Spiegel dargestellt. Denn es geht bei Gerechtigkeit immer um das eigene Gewissen und die Würde und darum, ob man sich selbst noch „im Spiegel sehen kann“.
* Die Rechte der Bürgerinnen waren da nicht inkludiert!
Mehr Infos zu den erwähnten Göttinnen:
Adrasteia
Dike
Eirene
Eunomia
Horen
Iustitia
Maat
Nemesis
Oya
Skuld
Syn
Tenga
Themis
Vör
Bildquelle: pixabay.com (away-453784_1920 / baby-1866621_1920)
Wie immer herzlichen Dank, Andrea!
Patriarchal passend (1789) „lieber den französischen König behalten“ und aktuell der politische Rechts-Ruck…
Dir noch einen schönen Sonntag wünschend!
Eine sehr umfassende und umsichtige Ausführung zum Thema „Gerechtigkeit“. Vielen Dank für all die Infos, die du zusammengetragen hast!