Am 28. Dezember begeht die Kirche seit dem 6. Jahrhundert das „Fest der unschuldigen Kinder“. Es erinnert an jenen Tag, an dem laut der Bibel König Herodes die Kinder von Betlehem töten ließ – in der Hoffnung, dabei auch Jesus zu erwischen, den er als Konkurrenten ansah.
Was es bei diesem „Fest“ zu feiern gibt, war mir schon immer schleierhaft.
Als ich selbst noch ein Kind war, war es wahrscheinlich genau diese Tat, die mich im Religionsunterricht am meisten bestürzt und verunsichert hat.
Und die mich dazu veranlasste, dieser Religion gegenüber kritisch zu sein.
Wie konnte Gott das zulassen?
Schon damals fragte ich mich und auch meine Religionslehrerin:
Wie kann ein Gott, der immerhin als allmächtig dargestellt wird, so etwas zulassen?
Was ist der eigentliche Sinn hinter dieser grauenvollen Tat, aus der sein eigener Sohn unversehrt herausgekommen ist?
Zitat aus der Bibel: „Ein Engel des Herrn erschien Joseph im Traum und sprach: Stehe auf und nimm das Kindlein und seine Mutter zu dir und flieh nach Ägyptenland und bleib allda, bis ich dir sage; denn es ist vorhanden, dass Herodes das Kindlein suche, dasselbe umzubringen.”
Warum hat dieser „gütige“ Gott nicht auch allen anderen Vätern und Müttern diesen warnenden Engel geschickt?
Warum schaut er nur auf sein „eigenes Erbgut“?
Die Frohe Botschaft aus dem Neuen Testament bekommt mit diesem angeblichen Massaker schon zu Beginn eine ziemliche Schlagseite.
Nur Matthäus berichtet vom Kindsmord
Was genau können wir davon wo in der Bibel finden?
Von diesem Kindermord und der davon ausgelösten Flucht Josefs mit Maria und Jesus nach Ägypten wird nur im Matthäusevangelium (2, 1 bis 18) berichtet.
Allen anderen Evangelisten ist dieses doch sehr epochale Ereignis keine Silbe Wert.
Auch in nichtbiblischen Quellen finden wir nichts über diesen Vorgang, obwohl das Leben von Herodes sehr gut dokumentiert ist.
Ich zitiere hier nicht den ganzen Text aus dem Matthäusevangelium, wer will nehme eine Bibel zur Hand und lese nach.
In kurzen Worten zusammengefasst:
Auf der Suche nach dem „neugeborenen König der Juden“, dessen Stern die weisen Männer (vulgo „Heilige Drei Könige“) aufgehen sahen, hofften sie, bei Herodes an der richtigen Adresse zu sein. Der fiel aus allen Wolken, als er von einem möglichen Konkurrenten um den Thron erfuhr. Er bat die Sterndeuter, ihn sofort zu informieren, falls sie fündig werden sollten.
Das wurden sie – dank des Sternes, der sie nach Bethlehem leitete. Doch bei ihrer Heimkehr machten sie um Jerusalem einen Bogen – von Gott im Traum gewarnt.
Und auch Josef, der Vater von Jesus, bekam von oben das Signal, sofort mit dem Kind und seiner Frau Maria nach Ägypten zu fliehen.
Als Herodes erfahren hatte, dass die Sterndeuter ihn getäuscht hatten, gab er wütend den Befehl zum Kindermord, so überliefert es Matthäus.
Fest steht, dass der 28. Dezember, also 3-4 Tage nach dem angeblichen Geburtstermin von Jesus natürlich ein fiktives Datum ist. Weil dieses ja unmittelbar mit der Geschichte der „Sterndeuter“ zu tun hat, und deren Ankunft in Betlehem war ja angeblich erst der 6. Januar.
Es stehen bei all dem ja keine Jahreszahlen dabei, also möglicherweise geschah das ganze erst einige Jahre später.
Aber halten wir uns nicht weiter mit der verschwurbelten Zeitrechnung des Neuen Testaments und dessen Auslegungen auf.
Wenden wir uns der Figur des Herodes zu: Er war bekannt für seine Grausamkeiten und witterte hinter jeder Ecke einen Konkurrenten, Intriganten oder Königsmörder.
Er scheute sich nicht, einige seiner Söhne und Ehefrauen umzubringen, wenn sie ihm politisch gefährlich wurden. So ließ er zwei Söhne, die eine Verschwörung angezettelt hatten, erwürgen, 300 Komplizen wurden gleich mit umgebracht.
Doch eine unmittelbare Gefahr des Umsturzes bestand nicht. Als Nachfolger des Herodes standen zudem drei weitere Söhne zur Verfügung, die später dann auch die Herrschaft von ihm übernahmen.
Wie groß waren da die Chancen für ein Kind, das da – laut biblischen Schilderungen – aus einer ärmlichen jüdischen Familie kam, Herodes aus seinem Amt zu drängen?
Rein machtpolitisch waren sie natürlich gering.
Keine anderen Quellen
Den ihm nachgesagten biblischen Kindermord zweifeln die HistorikerInnen schon seit geraumer Zeit an.
Der römische Historiker Flavius Josephus schuf die beiden Werke „Antiquitates Judaicae“ und „De Bello Judaico“, in denen er die Zeit und das Wirken von Herodes ausführlich beschreibt. Er verabscheute Herodes und schrieb ihm alle möglichen Untaten zu, erwähnt aber kein derartiges Verbrechen im Zusammenhang mit einem Massenmord an Knaben.
Sinn macht diese allerdings für Matthäus und seinem theologischen Ansatz. Denn dieser brauchte einen triftigen Grund die gesamte heilige Familie nach Ägypten zu verfrachten. Damit sollte das Wort des Propheten Hosea erfüllt werden: „Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.“
Also musste ein Reise- vielmehr Fluchtgrund her.
Die einem Mord entgangenen Säuglinge
Darüber hinaus machte sich ein Vergleich mit Moses gut.
Auch dieser entging knapp einem pauschalen Kindermord: „Daher gab der Pharao seinem ganzen Volk den Befehl: Alle Knaben, die den Hebräern geboren werden, werft in den Nil!” (Ex 1, 22).
In diese Situation hinein wird Mose geboren. Er wird zunächst zu Hause versteckt, doch als sich seine Existenz nicht länger verheimlichen lässt, setzt ihn die Mutter am Ufer des Nils in einem Schilfkasten aus, wo er ausgerechnet von der Tochter des Pharaos, der den Knabenmord befohlen hat, entdeckt und gerettet wird.
Das Motiv ist also absolut nicht neu:
Ein als Säugling nur knapp einem Massenmord entgangener Mensch, das ist schon ein ganz besonderes Zeichen für spätere Heiligkeit oder Göttlichkeit.
Auch der hindustische Krishna hat eine ähnliche Geschichte: Sein Onkel, der König Kamsa hat angeordnet, alle Kinder seiner Schwester hinzuschlachten, weil er nach einer Prophezeiung Angst hatte, dass diese ihm ihrerseits nach dem Leben trachten bzw. seine Macht brechen könnten. Er tötet die ersten sechs Kinder gleich nach der Geburt. Krishna entging dem Gemetzel nur knapp. Sein Vater flieht mit dem Neugeborenen über den Fluss Yamuna in das Dorf Goskul, wo Krishna bei Pflegeeltern aufwächst. Spannend übrigens: Auch Krishna war der Legende nach Hirte.
Und im griechischen Götterhimmel war es Familientradition, dass die Kinder vom Vater gefressen werden. Die Göttin Rheia konnte ihren Sohn Zeus durch eine List davor bewahren, von seinem Vater Kronos verschlungen zu werden, wie alle seine Geschwister zuvor.
Also ist es naheliegend: Es musste für die heilige Geschichte von Jesus auch so ein Massen-Kindsmord her, um ihn gleich einmal als Auserwählten zu legitimieren.
Wie genau es Matthäus es da mit der Wahrheit hielt, ist fraglich.
Wieviel Kinder waren es? 6 oder 144.000?
Wenn dieses Ereignis wirklich stattgefunden hat, wissen wir nicht, wieviel Kinder es waren, die da vor über 2000 Jahren hingeschlachtet wurden.
Während die griechische Liturgie 14.000 ermordete Knaben nennt und mittelalterliche Autoren bis zu 144.000 Opfer annahmen, sprachen spätere TheologInnen aufgrund der anzunehmenden Größe des Ortes Betlehem zu biblischen Zeiten nur noch von etwa sechs bis zwanzig oder dreißig dahin gemeuchelten Kindern.
Weshalb lässt im Bericht von Matthäus Herodes nicht nur alle Neugeborenen ermorden, sondern „alle Knaben bis zum Alter von zwei Jahren“?
Die logische Antwort:
Weil die „Magoi“, also die Weisen bzw. Sterndeuter ihm von einer Serie von Himmelszeichen berichtet haben, die sie schon geraume Zeit vor der angeblichen Geburt Jesu beobachten konnten!
Als die Könige ankommen, heißt es im Matthäusevangelium: „Sie gingen in das Haus und sahen das Kind und Maria.“
Aha, da befinden sie sich schon in einem Haus und es wird von einem „Kind“, nicht von einem Neugeborenen in einer Futterkrippe gesprochen.
Also vielleicht lief oder krabbelte der kleine Jesus bei Ankunft der Weisen aus dem Morgenland schon herum.
Herodes wollte nach Matthäus offenbar auf Nummer sicher gehen und gleich einmal alle Knaben eliminieren.
Außerdem: Wenn es nur die mit Jesus zeitgleich geborenen Neugeborenen in Bethlehem gewesen wären, die dran glauben mussten, dann wäre die ganze Story nicht so fulminant gewesen, dass da ausgerechnet Jesus errettet wurde.
Die Kinderleichen in Aschkelon
Manche vermuteten in einem archäologischen Fund in der südisraelischen Küstenstadt Aschkelon den Beweis dafür, dass die grausame Tat doch stattgefunden habe.
Hinter den früheren Kaimauern stieß man 1988 bei Ausgrabungen im Erdreich auf Skelette von mehr als hundert Neugeborenen. Die Opfer von Herodes?
Erste Analysen deuteten an, dass sie um die Zeit seiner Herrschaft gestorben seien. Inzwischen aber konnten aber Forschungen der Harvard-Universität mit modernen mikrobiologischen Methoden ermitteln, dass es sich um Säuglinge aus dem dritten Jahrhundert gehandelt habe, und dass obendrein auch weibliche darunter gewesen seien. Wieder ist Herodes entlastet.
Also: Keine historische Quelle bezeugt, dass Herodes der Große, der damals als König von Roms Gnaden über Israel herrschte, jemals einen Kindermord befohlen hat.
Aber es ist eine berührende Erwählungs- und Rettungsgeschichte. Und da kann man schon ein wenig flunkern oder die Wahrheit – sagen wir mal –„ausdehnen“.
Der Umgang der Kirche mit dem Kindermord
Sehr seltsam ist, wie Kirche mit den von ihr überlieferten grausamen Ereignissen im Laufe der Jahrhunderte umgegangen ist.
Lange war man der Auffassung, dass diese ermordeten Kinder wegen ihrer Reinheit und Unschuld zu besonderen Märtyrern wurden.
Was schon pervers genug ist. Denn wenn ein erwachsener Mensch sich dafür entscheidet, für seinen christlichen Glauben das Martyrium auf sich zu nehmen, dann ist das immer noch etwas anderes, als die Ermordung dieser Knaben, die von Jesus Christus, der ja auch gerade erst geboren wurde, noch gar keine Kenntnis haben konnten und daher auch gar keine Christen waren.
Im Mittelalter wurde dann genau dieser „Tag der unschuldigen Kinder“ vor allem in Klosterschulen dazu hergenommen, ein Narrenfest zu veranstalten, es wurde unter den Schülern ein „Narrenpapst“ oder „Narrenbischof“ gewählt, sowie Kirchenfeste und Prozessionen spöttisch nachgeahmt.
Wollte man so von diesem ernsten, tragischen Thema ablenken?
Und sich ähnliche Fragen ersparen, die ich einst meiner Religionslehrerin gestellt habe (ohne befriedigende Antwort übrigens).
In Spanien und Teilen Lateinamerikas gibt es immer noch einen ähnlichen seltsam anmutenden Brauch. Dort ist der „Día de los Santos Inocentes“ der Anlass, seine Mitmenschen zu veräppeln, wie man es bei uns am 1. April macht.
Die Schuld auf andere schieben
In der Neuzeit schließlich fand die Kirche genau diesen Tag dafür geeignet, um auf die „im Mutterleib getöteten Kinder“ hinzuweisen und eine massive Abtreibungs-Kritik damit zu verbinden.
Wenn man auf den zahlreichen christlichen Homepages Kommentare zu diesem Thema liest, dann wird es echt gruselig: Hier werden die „ohnehin nur 20 bis 30 Knaben” des biblischen Massakers den jährlich 300.000 in Deutschland „im Mutterleib ermordeten Kindern” gegenüber gestellt.
Also die biblischen Morde der patriarchalen Religion sind damit „Peanuts” gegenüber dem, was Frauen heute anstellen.
Hauptsache, man findet „Täterinnen” im außen, um von sich selbst abzulenken.
Frauen werden hier an den Pranger gestellt, anstelle sich mit den eigenen Glaubensinhalten auseinander zu setzen, in denen ein patriarchaler Gott einen patriarchalen Herrscher gewähren lässt, um letztendlich die Besonderheit seines eigenen Sohns herauszustreichen.
Fortsetzung folgt!
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Bildquellen:
Codex Egberti, fol. 15v: Der Bethlehemitische Kindermord (Meister des Registrum Gregorii) – de.wikipedia.org
Die Flucht nach Ägypten – Giotto di Bondone, ~1304-1306 – commons.wikimedia.org
Auffindung des Mose (Wandmalerei aus der Synagoge von Dura Europos) – de.wikipedia.org
Vasudeva trägt Krishna über den Fluss Yamuna – commons.wikimedia.org
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