Nach diesem wunderschönen Altweibersommer wird nun wohl langsam der Herbst einziehen.
In agrarischen Kulturen war es üblich, die letzte Garbe der Ernte ganz besonders zu behandeln, denn sie ist Grundlage für die Saat im nächsten Jahr. Vielfach glaubte man auch, dass in dieser letzten Garbe die Göttin höchstpersönlich wohnt.
In der litauischen Mythologie gibt es die Rugiu Boba, die Kornmutter bzw. den Korngeist. Diese Gestalt haust in Getreideäckern, vor allem in Roggenfeld. Bei der Ernte ist sie in der letzten Getreidegarbe. Deshalb wird in der bäuerlichen Tradition Litauens der allerletzten Roggengarbe die Gestalt einer Frau gegeben. Diese heißt noch heute Roggenmuhme. Sie wird beim Erntedankfest umjubelt und dann bis zur nächsten Ernte im Haus aufbewahrt.
Auch die russische Baba Yaga haust in der letzten Garbe bzw. im letzten Getreidekorn des geernteten Getreides. Die Geschichte erzählt, dass jene Frau, die dieses und damit Baba Yaga isst, im Frühling ein Kind bekommen würde. Sie ist damit ein Sinnbild für die Lebenskraft, wie sie das geerntete Korn in sich trägt. Der herbstliche Tod auf dem Kornfeld führt zur Wiedergeburt im nächsten Frühjahr.
Alter Mythos rund um die Jahreszyklen
Der Mythos rund um die letzte geerntete Getreidegarbe ist schon sehr alt. Im Zuge der Eleusischen Mysterien im antiken Griechenland wurde jedes Jahr der Abstieg von Kore zu Herbstbeginn betrauert. Zu diesem Zwecke wurde die letzte geerntete Getreidegarbe rituell mit dem Wunsch nach einer Wiedergeburt in eine Krippe gebettet. Im kommenden Frühjahr steigt sie dann gereift als Persephone wieder an die Oberfläche und der Jahreszyklus des Blühens und Gedeihens beginnt von vorne
Die schottische Göttin Carlin beschützt die Menschen während der dunklen Zeit des Winters vor „bösen Geistern“, vor depressiven Verstimmungen, Ängsten und ähnlichen mit der Finsternis verbundenen Gefühlszuständen.
Die letzten Garben der Ernte werden ihr zu Ehren zu einer Puppe gebunden und als alte Frau bekleidet. Sie bekommen einen Ehrenplatz in den Wohnräumen.
Diese Puppen, die dieser Göttin geweiht sind, werden auch Carlin genannt.
In der schottischen Mundart heißen alte Frauen auch Carlin.
Die irische Muttergöttin Inghean Bhuidhe wird oft in einem einzigen Getreidekorn verehrt, in dem das ganze Potenzial der Pflanze innewohnt. Aus diesem — oft heiligen, geheiligten — Korn entsteht neues Leben. Daher wurde ein solches Korn als Zeichen der Göttin rituell vom letzten geernteten Getreidehalm bei der Ernte entnommen und ebenso rituell als besonderes Korn bei der Saat als Stellvertreterin für die Göttin wieder in die Erde eingebracht.
Die Kornhexe des Winters
Von der alten keltischen Göttin Cailleach wird gesagt, dass sie für das Alte und Absterbende steht. Sie tötet das, was nicht mehr gebraucht wird. Damit schafft sie aber wiederum Raum für neues Leben und Wiedergeburt. Daher war und ist es immer noch zu Ernte-Dank, der Herbsttagundnachtgleiche Brauch, die letzte Garbe zu einer Puppe zu binden und sie nach ihr zu benennen. Diese Puppe wird auch Kornhexe des Winters genannt.
Der Mann, der sie schneidet, muss ihr einen Platz im Haus geben und hat sie den ganzen Winter zu „versorgen“. In manchen Gegenden wurde diese Puppe sogar feierlich in die Kirche gebracht, um danach im Haus einen Ehrenplatz zu bekommen. Im Frühjahr wird sie an das Vieh verfüttert was dieses gesund halten soll. Sie ist somit die Hüterin der Samen und der Saat, der essentiellen Lebenskraft.
Dies gilt nicht nur für das Getreide. Sie bewacht und beschützt auch bei den Menschen, die durch schwere, dunkle Zeiten gehen, den ursprünglichen Lebensfunken, jenen Keim, der immer heil und ganz bleibt und aus dem gänzlich Neues entstehen kann.
Die Essenz bewahren
Im übertragenen Sinn könnten wir diesen Oktoberanfang dazu nutzen, um unser persönliches „letztes Getreidekorn“, also die Essenz unserer heurigen Ernte herauszufinden und entsprechend zu ehren – um diese den Winter über zu bewahren und sie in die „Saat“ für das nächste Jahr wieder einzubringen.
Dazu gibt es einen hübschen Brauch rund um die afrikanische und karibische Göttin Ayizan: Frauen werfen mit Wünschen Getreidekörner in die Höhe, damit die Freude und das Vergnügen förmlich herunter regnen kann.
Alle, die von diesen Körner getroffen werden, sind vom Bösen beschützt. Die Getreidekörner sollen dann am Boden liegen bleiben, damit Vögel die Wünsche direkt zu Ayizan tragen können.
Mehr zu den erwähnten Göttinnen:
Ayizan
Baba Yaga
Cailleach
Carlin
Inghean Bhuidhe
Kore
Persephone
Rugiu Boba
Was ich immer wieder freudig feststelle, dass der Brauch, „die letzte Garbe“ am Feld stehen zu lassen, nach wie vor gepflegt wird. Zumindest in unserer Gegend.
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